Bertha Pappenheim - Anna O.

Biographie

pappenheim

Im Frühjahr 2004 erschien die
Biografie bei Reclam als
Taschenbuch unter dem Titel:

Sigmund Freuds Anna O.
Das Leben der Bertha Pappenheim.

12.90

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Leseprobe

Die Krankheit

Im Juni 1880 ging die Familie wieder einmal nach Ischl in die Sommerfrische. Der Kurort, ganz in der Nähe von Wien gelegen, war bei den wohlhabenden Familien sehr beliebt. Auch die kaiserliche Familie verbrachte hier viele Sommer. Es herrschte ein reges Kulturleben und in den Sommermonaten gastierten hier häufig die Wiener Musiker. Siegmund Pappenheim hatte für seine Familie ab dem 23. Juni die Villa Bellevue in der Kaltenbachstraße 58 gemietet. Der gesamte Pappenheimsche Haushalt einschließlich Bedienungspersonal zog mit.

Bertha war inzwischen 21 Jahre alt und noch immer unverheiratet. Ihre Mutter hatte in diesem Alter schon den Familienhaushalt geleitet und ihr erstes Kind gehabt. Bei Bertha waren alle Voraussetzungen für eine standesgemäße Heirat vorhanden. Sie war schön und klug. Sie hatte große dunkle Augen und schwarzes, volles Haar, das meist zu üppigen Frisuren aufgesteckt war. Mit ihrem herzlichen Lachen, ihrer schlanken Gestalt und ihrem ebenmäßigen Gesicht soll sie erotisch anziehend gewesen sein. Auch an einer üppigen Mitgift würde es nicht fehlen.

Warum war noch keine Ehe für Bertha arrangiert? Wollte ihr Vater sie nicht loslassen? Das hätte zu dem sonst so konventionellen Charakter der Familie kaum gepaßt. Wehrte Bertha selbst sich gegen eine traditionelle Eheschließung? Bisher war sie ihren Eltern immer eine brave Tochter gewesen und führte klaglos das innerlich leere, konventionelle Leben eines Mädchens aus gutem Hause. Von Widerstand dagegen ist nichts bekannt. Wahrscheinlich wußte Bertha zu diesem Zeitpunkt selbst nicht genau, welchen Lebensweg sie einschlagen sollte, aber gegen eine Ehe wider Willen hätte sie sich wahrscheinlich heftig zur Wehr gesetzt.

Der Sommeraufenthalt in Ischl sollte ihr Leben grundlegend verändern. Ihr Vater erkrankte an einer hochfiebrigen Brustfellentzündung. Wieder einmal nistete sich das Gespenst der Tuberkulose, die "Wiener Krankheit", bei den Pappenheims ein. Der schwerkranke Mann brauchte Tag und Nacht intensive Pflege. Aus Zuneigung und Besorgnis engagierte die Familie keine Pflegerin. Mutter und Tochter übernahmen selbst die Pflege.

Bertha saß nachts am Bett des Vaters, die Mutter tagsüber. So auch in der Nacht vom 17. auf den 18. Juli, als sie für den nächsten Morgen den Chirurgen aus Wien erwarteten. Er sollte bei Siegmund Pappenheim eine Operation durchführen. Bertha war mit dem hochfiebrig Kranken und ihrer schon gesteigerten Angst allein. Sie saß am Bett, den rechten Arm über die Stuhllehne gelegt, und kam allmählich in einen Zustand der Bewußtseinstrübung (Absence). «In diesem halluzinierte sie schwarze Schlangen, die aus den Wänden kröchen, und eine, die am Vater hinkroch, ihn zu töten. Ihr rechter Arm war durch die Lage taub geworden und ihre Finger verwandelten sich in kleine Schlangen mit Totenköpfen. Wahrscheinlich machte sie Versuche, die Schlangen mit dem gelähmten rechten Arm zu verjagen. Als die Halluzination verschwunden war, wollte sie in ihrer Angst beten, aber ihre Sprache versagte, sie konnte keine sprechen, bis sie endlich einen englischen Spruch fand und nun nur in dieser Sprache fortdenken und beten konnte. Der Pfiff der Lokomotive, die den Professor brachte, unterbrach den Spuk» . So wird Dr. Josef Breuer, der behandelnde Arzt, später Berthas Zustand in dieser Nacht darstellen. Sie selbst erzählte vorerst niemandem von ihren Schreckensvisionen und leistete weiter ihren Pflegedienst. Die Ängste fraß sie in sich hinein, entwickelte einen starken Ekel vor jeder Nahrung. Mit der Zeit häuften sich aber die Zustände, in denen Halluzination entstanden, von denen sie im wachen Zustand nichts wußte, die sich aber immer öfter wiederholten. Sooft sie in ihrem Inneren schwarze Schlangen sah, wurde der rechte Arm völlig steif. Sooft sie ängstlich gespannt horchte, wurde sie ganz taub. Nach einem Streit mit ihren Bruder, der sie für verrückt hielt, bekam sie einen Sprechkrampf.

Es wurde typisch für Berthas Zustand, daß sich jedes Mal, wenn sie ihre Gefühle unterdrückte, krankhafte Störungen einstellten, deren eigentlicher Anlaß in Vergessenheit geriet. Ihre seelische Not war so groß, daß sie zeitweilig kaum sprechen konnte, Beine und Arme taub waren und sie den Kopf kaum allein heben konnte. Später erinnerte sie sich, daß ihr Bruder, der ihr Benehmen albern und unsinnig fand, sie einmal heftig schüttelte, um sie, wie er meinte, wieder zur Vernunft zu bringen. Dabei wurde sie vorübergehend taub und jedes Schütteln ließ diese Störung erneut entstehen. Ein anderes Mal, tief abwesend, erkannte sie ihren Vater nicht und verstand auch seine Frage nicht. Erst als er im Scherz fragte: «Na, how are you, Miss Bertha?» erwachte sie aus einer anderen Welt. Seitdem passierte ihr dieses Nichterkennen von Menschen und Nichtverstehen von Wörtern häufiger. Viele ähnliche Symptome entwickelten sich, verschwanden aber nach einigen Tagen wieder. Bei einem Theaterbesuch quälte sie ihr schlechtes Gewissen, ihren Vater an diesem Abend allein gelassen zu haben, so sehr, daß sie vorübergehend erblindete. Erst zu Haus konnte sie allmählich wieder sehen. Ein anderes Mal führte der Wunsch, nicht am Krankenbett, sondern beim Tanzen zu sein, als Musik erklang, zu starkem Husten, der immer auftrat, wenn sie Musik hörte.
Dr. Breuer erfuhr von diesen Vorkommnissen im Laufe seiner Behandlung und machte die Beobachtung, daß Bertha dem Erinnern heftigen Widerstand entgegensetzte und die Ereignisse nur mühsam und widerwillig in ihr Gedächtnis zurückzuholen waren.

In seinem Krankenbericht schilderte er Bertha als ein Mädchen mit energischem Willen und Eigensinn, das sein Ziel nur aus Güte um anderer Willen aufgibt. Sie habe ein ausgezeichnetes Gedächtnis, sei von bedeutender Intelligenz, «erstaunlich scharfsinniger Kombinationsgabe und scharfsichtiger Intuition, habe einen kräftigen Intellekt, der auch solide Nahrung verdauen würde und sie brauchte, aber seit dem Austritt aus der Schule nicht erhielt.» Bertha führe ein monotones, nur auf die Familie beschränktes Leben; Ersatz suche sie dafür «in leidenschaftlicher Liebe zu dem sie verhätschelnden Vater und im Schwelgen in der sehr entwickelten poetisch-phantastischen Begabung. Während alle sie anwesend glaubten, lebte sie Märchen durch, war aber auf Ansprache immer gleich präsent, so daß niemand davon wußte». Bertha gab dieser Gedankenwelt den Namen Privattheater. Diese Institution ihres geistigen Lebens wurde um so wichtiger und gefährlicher, als es «für ihre geistige Tätigkeit keinen realen Inhalt gab.»

Anfang September gingen die Pappenheims zurück nach Wien. (...)
Der Internist Josef Breuer, 1842 in Wien geboren, stammte wie Bertha Pappenheim aus einer traditionell jüdischen Familie. Breuer war jedoch ein aufgeklärter, assimilierter Jude, der sich vom Glauben seiner Väter entfernt hatte, dem Judentum zeitlebens aber tief verbunden fühlte. Er galt als gebildeter Arzt und hervorragender Diagnostiker. Eine wissenschaftliche Karriere hatte er zugunsten einer internistischen Praxis aufgegeben und war einer der beliebtesten Ärzte der Wiener Oberschicht geworden. Mit dem 14 Jahre jüngeren Sigmund Freud verband Breuer eine viele Jahre währende Freundschaft. Freud schildert Breuer als «einen Mann von reicher, universeller Begabung, dessen Interessen nach vielen Richtungen weit über seine fachliche Tätigkeit hinausgriffen.» Die Dichterin Marie von Ebner-Eschenbach, Patientin und Freundin Breuers, drückte ihre Wertschätzung für ihn in einem Reim aus: «Herrn Dr. Josef Breuer / dem Freunde, der mir teuer / dem Arzt, dem ich befehle / den Leib, den Geist, die Seele.»

Als Dr. Breuer 1880 zu Bertha Pappenheim gerufen wurde, war er ein stattlicher Mann von 38 Jahren mit modischem Bart, verheiratet mit Frau Mathilde und Vater von vier Kindern, das fünfte wurde erwartet. Ob Breuer Hausarzt der Familie Pappenheim war, ist nicht mehr genau zu klären. Dafür spricht, daß er die persönlichen Verhältnisse sehr gut kannte, und - wie bei Hausärzten üblich – auch im Falle Bertha Pappenheim wenige Tage nach dem Beginn der Behandlung einen Facharzt für Augenheilkunde hinzuzog, der ihr Augenleiden untersuchen sollte. Breuer ließ sich zunächst völlig auf Berthas unklare Krankheitserscheinungen ein und besuchte sie täglich. Die Mutter war vor allem in Sorge, Bertha könnte sich bei ihrem Vater mit Tuberkulose angesteckt haben.
Breuer fand eine stumme, von Angstvisionen gepeinigte, durch unklare Ursachen gelähmte und fast blinde junge Frau vor. Er setzte sich an ihr Bett, bat Pflegerin und Mutter, den Raum zu verlassen, sprach beruhigend auf die Patientin ein und erreichte schließlich, daß sie zu sprechen begann. Er fragte sie nach ihrem Vater, ihren Gefühlen und Empfindungen. Sie antwortete zwar auf Englisch, aber sie antwortete. Zu Breuers Erstaunen verschwanden darauf hin einige Symptome. Das linke Bein, eine Zeitlang ganz gelähmt, wurde wieder beweglich, nachdem Bertha von ihrem Vater gesprochen hatte. Nachmittags lag sie schläfrig da, und abends klagte sie: «quälen, quälen» . In den folgenden Wochen begann sie, immer flüssiger, Geschichten in der Art von Andersens "Bilderbuch ohne Bilder" oder Märchen zu erzählen, und am Ende sprach sie immer ganz korrekt. Einige Momente danach erwachte sie und fühlte sich offenbar beruhigt, wie sie sagte: «behäglich» . In der Nacht aber wurde sie sehr unruhig, und morgens, nach zwei Stunden Schlaf, befand sie sich in einem anderen Vorstellungskreis. Das "Privattheater", diese von ihr schon als kleines Mädchen entwickelte Form des Wachträumens, bei der sie sich phantastische Geschichten ausdachte, führte sie nun in verwandelter Form fort, erzählte Märchen von verlassenen, an Krankenbetten ausharrenden Kindern, die allesamt sehr unglücklich waren. Breuer unterstütze ihre Erzähllaune mit hypnotischen Formeln, die ihr das Stichwort für neue Geschichten gaben.
Ein Zustand des Doppelbewußtseins dauerte in den nächsten Wochen an und ähnelte in der Regelmäßigkeit dem Alltagsrhythmus jener Zeit, als sie ihren Vater noch gepflegt hatte: Schlaf über Tag, wenig Ablenkung und Anregung und schließlich die nächtliche Zeit am Krankenbett, wo Bertha sich von Angst gepeinigt und allein gelassen fühlte.
Die Sorge der Mutter, Bertha könne sich beim Vater angesteckt haben, konnte Breuer schnell zerstreuen. Er diagnostizierte lediglich einen "nervösen Husten". In seiner Krankengeschichte schreibt Breuer ergänzend: «... doch bezeichnete ich die Patientin sogleich als geisteskrank, ihres sonderbaren Benehmens halber» .

Anfang Dezember wurde Bertha zunehmend schwächer, sie litt unter weiteren Seh- und Sprachstörungen, konnte ihr rechtes Bein und ihren Arm nicht mehr bewegen. Ab dem 11. Dezember war sie für mehrere Monate bettlägerig. In rascher Folge entwickelten sich eine Reihe von schweren Störungen: Erschlaffung der vorderen Halsmuskeln, Funktions- und Bewegungseinschränkung der Beine, Taubheit in Armen und Beinen und Sehstörungen. Die junge Frau neigte zu heftigen Stimmungswechseln von vorübergehender Heiterkeit bis zu extremen Angstgefühlen. Selbstverständlich konnte sie nun den Vater nicht mehr pflegen, bekam deshalb starke Sehnsuchtsattacken und hatte immer wieder die Halluzination der schwarzen Schlangen, wobei sie sich dann selbst beruhigte, es seien ja nur ihre Haare und sie solle nicht so dumm sein. Aber die Angst wich nicht von ihr.

Heute, nach mehr als einem Jahrhundert psychoanalytischer Theorie und Praxis, ist es üblich, bei Alpträumen mit schwarzen Schlangen sexuelle Phantasien zu assoziieren. Im Falle Bertha Pappenheim liegt die Vermutung sexueller Unterdrückung nahe. Um so verblüffender erscheinen Dr. Breuers Erklärungen: «Sexuelles Element erstaunlich unentwickelt; ich habe in den massenhaften Halluzinationen auch nicht einmal dasselbe vertreten gefunden. Jedenfalls ist sie noch nie verliebt gewesen, soweit nicht ihr Verhältnis zum Vater dieses ersetzt hat bzw. damit ersetzt war» .
Freud schrieb dazu später: «Wer die Breuersche Krankengeschichte im Lichte der in den letzten zwanzig Jahren gewonnenen Erfahrungen von neuem durchliest, wird die Symbolik der Schlangen, des Starrwerdens, der Armlähmung nicht mißverstehen und durch Einrechnung der Situation am Krankenbette des Vaters die wirkliche Deutung jener Symptombildung leicht erraten. Sein Urteil über die Rolle der Sexualität im Seelenleben jenes Mädchens wird sich dann von dem ihres Arztes weit entfernen.» Warum erwähnte Breuer überhaupt das scheinbar unentwickelte sexuelle Element? Der Krankenbericht wurde wahrscheinlich Monate später geschrieben und richtete sich an einen Kollegen, der Bertha in einem Sanatorium behandelte. Es könnte sein, daß er dem nun behandelnden Arzt gegenüber jeden Verdacht auf eine inzestuöse Beziehung zwischen Vater und Tochter abweisen wollte. Doch wird Breuer auch von der Prüderie der viktorianischen Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts und den sexuellen Tabus der jüdischen Religion beeinflußt gewesen sein und sich deshalb gescheut haben, von Bertha genaueres zu diesem Thema zu erfahren.

Zwar war er erstaunt, daß eine so attraktive junge Frau in noch ganz kindlicher Weise nur ihren Vater liebte und davon so erfüllt war, daß scheinbar kein Platz für eine altersgemäße Sexualität blieb. Aber Breuer hat es bei dieser Feststellung belassen und in der weiteren Behandlung mit Bertha die sexuelle Thematik völlig ausgeklammert. Und Bertha, erzogen in den sexuellen Tabus der jüdischen Religion und der Wiener Gesellschaft, hätte sich Dr. Breuer gegenüber sehr schwer getan, eine innere Erregung sexueller Art auszudrücken und hätte es auch nicht für schicklich erachtet, dies zu tun. Stattdessen erzählte sie Märchen und beklagte, daß ihr die Pflege des geliebten Vaters nun ganz verwehrt sei. Manchmal zeigte Bertha auch ein auffällig kindisches Verhalten, warf mit Polstern um sich, schimpfte, riß sich Knöpfe ab und verfiel schließlich über ihr schlechtes Benehmen in Schuldgefühlte und tiefe Traurigkeit. Immer öfter entstanden Lücken im Ablauf ihrer bewußten Vorstellungen, so daß sie nach Polsterschleudern und Knöpfeabreißen heftig klagte, daß man sie in solcher Unordnung ließe, aber sich nicht erinnern konnte, diese selbst verursacht zu haben. Gegen Morgen, wenn sie nach kurzem Schlaf erwachte, wechselten in oft rascher Folge die beiden Bewußtseinszustände ab. In dem einen erkannte sie ihre Umgebung, war traurig und launisch, aber relativ ruhig, in dem anderen hatte sie Wahnvorstellungen und war ganz außer sich. Dazwischen gab es wieder klare Zeiten, wo sie über die tiefe Finsternis ihres Kopfes klagte, wie sie nicht denken könne, blind und taub werde, zwei Ichs habe, ihr wirkliches und ein schlechtes, das sie zu Schlimmem zwinge. Sie sprach dabei gelegentlich einzelne Worte, die auf ihre Phantasiegebilde hinwiesen. Breuer, der täglich kam, fragte Mutter und Pflegerin nach den Worten, die Bertha im Halbschlaf gemurmelt hatte. Dazu zählte zum Beispiel das Wort "Sandwüste". Wenn Breuer dann das Stichwort "Wüste" gab, begann sie, eine Geschichte von einem in der Wüste Verirrten zu erzählen. «Die Geschichten waren alle tragisch, teilweise sehr hübsch, meistens drehten sie sich um die Situation eines bei einem Kranken in Angst sitzenden Mädchens, doch auch ganz andere. Nahm ich [Breuer] ihr einmal abends die Geschichte nicht ab, so fehlte die abendliche Beruhigung, und am nächsten Abend waren zwei erzählt.» Bertha sprach dabei immer Englisch, verstand aber Deutsch. Für die Phase des Sonnenuntergangs benutzte sie das Wort "clouds" (Wolken M.B.) und erhoffte sich allabendlich von Breuer die Befreiung von den dunklen Wolken, die sie quälten.

Immer häufiger verfiel sie in Absencen. Ihr fehlten Worte, und sie sprach nur noch in Infinitiven. Dann suchte sie sich mühsam aus fünf oder sechs Sprachen etwas zusammen. Auch beim Schreiben benutzte sie dieses unverständliche Kauderwelsch. Einmal, als sie sich vom Vater gekränkt fühlte, hatte sie in kindlichem Trotz beschlossen, «nicht mehr nach ihm zu fragen» , und war mehr als zwei Wochen ganz unfähig zu sprechen.

Das Leben von Bertha Pappenheim, inzwischen 22 Jahre alt, bettlägerig und von Angst getrieben, war ganz vom Rhythmus ihrer Krankheit bestimmt. Breuers Besuche boten die einzige Abwechslung. Die Mutter war mit der Pflege des kranken Vaters beschäftigt und hatte Bertha strikt verboten, den Vater zu besuchen, angeblich wegen Ansteckungsgefahr. Manchmal durchbrach Bertha nachts heimlich das Verbot und lief auf Strümpfen zur Tür des Vaters, um zu horchen, wie es ihm ginge. Daß sie nachts die Strümpfe anbehielt, wurde von ihrer Umgebung mit Unverständnis als kindischer Eigensinn abgetan. Bertha wurde von einer Pflegerin betreut, die eigens für sie eingestellt war.

In der Krankengeschichte von 1882 schreibt Breuer, daß er zeitweise Sorge hatte, Bertha Pappenheim könnte an einer schweren organischen Krankheit, eventuell an chronischer Meningitis (Hirnhautentzündung M.B.) leiden. Doch die Tatsache, daß es immer wieder möglich war, durch das Sprechen unter leichter Hypnose die Störungen abzuschwächen bzw. ganz zu beseitigen, bewogen ihn, an der Diagnose Hysterie festzuhalten und die reine Sprechbehandlung weiterzuführen. Breuer war fest davon überzeugt, daß die Beschwerden keine eingebildeten Krankheiten waren, denn sie hinderten die Patientin an dem, was ihrer wahren, leidenschaftlichen Liebe das Höchste war, den schwer kranken Vater zu sehen. Breuer meinte, daß sie jedes Opfer gebracht, jede Kaprice aufgegeben hätte, um dies zu erreichen . Zwar wirkte Bertha in diesen Monaten zeitweilig wie eine Schwerkranke, doch auch in akuten Momenten arbeitete in ihr ein scharf sehendes "Beobachtergehirn", wie sie es selbst nannte, das Auskunft über die Wirklichkeit gab, in der sie sich befand. Bertha litt in dieser Zeit auch unter schweren Schlafstörungen. Deshalb hatte ihr Breuer, wie er betonte, «ganz selten», aber insgesamt während des ersten Jahres der Behandlung «etwa drei oder vier mal» , Chloral zum Einschlafen gegeben. Das Schlafmittel Chloral bzw. Chloralhydrat ist eines der ältesten Schlafmittel und gilt auch heute noch als nebenwirkungsarm und gut verträglich.
Anfang März 1881 gingen die Störungen allmählich zurück. Bertha sprach meist fließend Englisch, war sich dessen aber nicht bewußt, und verstand problemlos Deutsch. Nur in Momenten großer Angst versagte ihre Sprache vollständig. Nach der Entlastung durch das abendliche Erzählen unter Hypnose sprach sie meist Französisch oder Italienisch. Deutsch sprach sie fast gar nicht und von den "englischen Zeiten" erinnerte sie nichts. Die Lähmungen der linken Seite nahmen ab, Bertha schielte kaum noch, konnte den Kopf wieder selbständig heben. Am 1. April stand sie auf. Breuer hoffte, sie wäre so weit geheilt und die vollständige Gesundung würde nun schnelle Fortschritte machen.

Die Diagnose Hysterie, die Breuer gestellt hatte, war zur damaligen Zeit keine Besonderheit. Wenn heute eine Person abwertend "hysterisch" genannt wird, werden ihr von anderen hauptsächlich überspannte Reaktionen zugeschrieben. Damit ist keine seelische Erkrankung gemeint, die der psychotherapeutischen Behandlung oder gar der Einweisung in eine Klinik bedürfte. Im 19. Jahrhundert dagegen war die Hysterie eine Seelenkrankheit, die beliebteste der berühmten Seelenärzte, die Königin unter den Neurosen. Frauen, insbesondere junge Frauen, galten als höchst anfällig für dieses Leiden.

Die Hysterie hat eine lange und dunkle Geschichte medizinischer Diagnosen und Therapien hinter sich. In der griechischen Heilkunst wird der Name der Krankheit von "hysteron", dem Wort für Uterus abgeleitet und eine Störung schließlich Hysterie genannt, die mit unbestimmten organischen Symptomen von Sprachverlust bis Lähmung einhergeht . Eine Geflecht von Vermutungen und Verdächtigungen, Mythen und Phantasmen zieht sich durch die Geschichte der Medizin. Schon Hippokrates entwickelte die Theorie, wonach der Uterus, wegen der Enthaltsamkeit der Eigentümerin unbefriedigt, im Körper wandert, um sich schließlich im Gehirn festzufressen, wo ihm die weiße Substanz das zu spärlich zur Verfügung gestellte Sperma ersetzt. Die Idee, der Uterus wandere, wurde durch die Jahrhunderte unter den Fachleuten immer weitergereicht. Die Ärzte entwickelten daraus die verschiedensten, oft schmerzhaften Therapien. Noch im 19. Jahrhundert glaubte man, daß es medizinisch geboten wäre, den Uterus durch gewaltsame Methoden an seinen Platz zurückzutreiben. Auch schmerzhafte Elektrisierungen wurden eingesetzt. Als Operationen möglich wurden, "heilte" man mit radikalen Beschneidungen und Klitorisentfernungen.
Charcot, bekannt als der große Meister der Hysterieforschung um 1900, nahm nach der Jahrhunderte dauernden Verachtung erstmals die Hysterie als Krankheit ernst. Der junge Sigmund Freud, der mehrere Monate in seiner Klinik arbeitete, schrieb anerkennend: «Durch ihn gewöhnte man sich allmählich das höhnische Lächeln ab, auf das die Kranke damals sicher rechnen konnte» . Unzählige Patientinnen durchliefen die Charcot‘sche Anstalt Salpetrière bei Paris. In öffentlichen Vorlesungen präsentierte Dr. Charcot als Hypnotiseur die Hysterikerinnen, ließ Fotos der Vorstellungen machen und das gebildete Paris ergötzte sich an den Anfällen der grande hysterie.

Schon ein kurzer Ausflug in die Geschichte der Hysterie zeigt, welches Arsenal auch Breuer zur Verfügung gestanden hätte, um Bertha Pappenheim zu behandeln. Doch er benutzte weder die Elektrotherapie noch Wasserkuren, verordnete keine Kompressionen oder gynäkologische Eingriffe. Er verschrieb anfangs auch keine der damals bekannten sogenannten Antihysterica wie u.a. Baldrian, Brompräparate, Morphium, Opium, oder Chloralhydrat. Er ließ seine Patientin - mit Hilfe von Hypnose - einfach reden. Die Hypnose bestand im eindringlichen Vorsprechen immer gleicher Worte, die Bertha schließlich zum Reden animierten.